Beige-Grün, UFOs und Norma

Mittwoch, 18.11.2015

Guten Morgen, guten Abend, guten Tag, liebe Freunde überall!

Hier kommt eine neue Episode aus unserem derzeitigen Leben.


An diesem Sonntag dudelt zum Hotelfrühstück leise „A little bit of Soul“ 

aus den Boxen, ein lang vergessenes Lied, das prompt Erinnerungen an prä-pubertäre Zeiten aus den Neunzehnhundertmittsechziger Jahren wachruft, als die Bands noch „Gruppen“ oder „Beatbands“ hießen und „Beatmusik“ machten.

Wir verlassen Ventura und lavieren uns durch den - für eine Riesenstadt wie Los Angeles einigermaßen flüssigen - Wochenendverkehr. Yeah! Wir sind wieder on the road, aber ab jetzt heißt es nicht mehr „Go West“, sondern es geht ostwärts. Auf der Gegenfahrbahn entdecken wir übrigens „mal wieder“ einen Werner, was sonst? ;-)

(Zum Vergrößern Fotos wie immer anklicken)

   

Für amerikanische Verhältnisse wird hier sehr schnell gefahren. Erlaubt sind höchstens 50 Meilen pro Stunde (knapp 90 km/h), aber de facto wird man ganz fix zum Verkehrshindernis, wenn man mit weniger als 70 Meilen pro Stunde (knapp 113 km/h) unterwegs ist.
Ein letzter Blick aus dem Auto auf die Downtown, dann heißt es:

Bye bye, Hollywood Hills! 

Und bei der Gelegenheit stellen wir verwundert fest, dass wir nun schon zum zweiten Mal hier sind und noch nicht einmal den „Hollywood“-Schriftzug in live gesehen haben, na sowas!

Hinter LA wird es ruhiger, denn viele biegen ab ins Wochenendvergnügen zu den Stränden am Pazifik im Süden. Die Landschaft und Architektur in den Ausläufern der Stadt ist stark mediterran geprägt. Pinien, Palmen, heller Putz, Terrakotta. Nach zwei, drei Stunden Fahrt durch mehr oder minder bevölkertes Umland von Los Angeles hat uns die Wüste wieder.
Es herrschen trockene und heiße 93 Grad Fahrenheit, das entspricht etwa 33 Grad Celsius (im Schatten – den es hier nicht gibt). Gut, dass es Klimaanlagen gibt, und kein Wunder, dass in dieser unwirtlichen Umgebung kaum eine Pflanze überleben, geschweige denn gedeihen kann.

Stundenlang geht es durch sandfarbenes Gelände, "Rentner-Beige" nenne ich es. Die Berge und das spärliche blassgrüne, halbvertrocknete Buschwerk bieten dem Auge nur wenig Abwechslung. Zunächst beeindruckt noch die Höhe der Berge, dann fahren wir in eine langgestreckte Ebene hinein, in der kilometerlang dicht an dicht aufgereiht Windkrafträder stehen. Die Berge bilden hier Schneisen, und Schilder warnen vor plötzlich auftretendem starken Wind. Das Windkrafträder-Gebiet ist riesig, wir brauchen bestimmt eine halbe Stunde, bis wir durch sind.

 

              

Die Grenze zwischen Kalifornien und Arizona bildet der Colorado River. Arizona begrüßt uns mit Kakteengewächsen wie aus dem Bilderbuch.

Ansonsten ist alles wie gehabt: Es ist nichts los. Wir kommen sogar an einem Ort namens „Nothing“ vorbei, ohne es zu bemerken – ich entdeckte ihn später auf der Landkarte und googelte das hier:

„Die Verkehrsbetriebe von Arizona brachten am Ortseingang von Nothing ein Schild an, auf dem das Folgende zu lesen war: „Die Stadt NICHTS, gegründet 1977, Höhe ü.d.M. 3269 Feet. Die treuen Bürger von Nichts sind voller Hoffnung, Vertrauen und Glauben an das Arbeitsethos. All die Jahre lang glauben diese überzeugten Leute an Nichts, hoffen auf Nichts, arbeiten an Nichts und für Nichts.“
Na, wenn das NICHTS ist!
Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass man in Hamburg in der Innenstadt ganz früher mal ein Getränk (ich glaube, es war Schnaps) namens „Nichts“ kaufen konnte. Den brachte man Leuten mit, die sagten, man solle „Nichts“ schenken/zur Party mitbringen... :D

Werner sagt, das Land hier ist als UFO-Land bekannt. Mystery-Serien aus aller Welt bedienen die Fantasie derer, die an UFOs glauben, indem sie alte Legenden immer wieder aufwärmen. Ein Stück weiter auf unserer Strecke, in Roswell, gab es vor 70 Jahren den sogenannten „Roswell-Zwischenfall“.

Ein Mythos, der einfach nicht totzukriegen ist.

Andererseits: Ich kann mir gut vorstellen, dass wohl selbst der Vernünftigste, wenn er seine Zeit ständig zwischen diesen kargen, beige-grünen Geröllhaufen ohne jede Abwechslung zubringen muss, schon allein aus lauter Langeweile hin und wieder eine „Vision der anderen Art“ bekäme. Oder wie sonst lässt sich erklären, dass ich abends, als ich unsere Fotos auf den Rechner übertrage, vier höchst verdächtige Lichtpunkte entdecke, die sich neben einem schmalen weißen Streifen auf den blauen Himmel an die obere Kante eines unserer Fotos geschmuggelt haben. Ganz klar: Die Lichter eines eckigen UFOs! Und was bedeutet es wohl, dass auf einem weiteren Foto der Riesenkaktus genau auf einer Linie mit dem UFO steht? Sehr mysteriös! ;D... ;-)

 

Schließlich wird es städtischer, wir nähern uns einer Großstadt: Phoenix, Arizona. Und schon wieder kreuzt ein seltsames Objekt unseren Weg. Die kugelige Kirche „Iglesia La Luz Del Mundo“ trägt doch tatsächlich eine Krone!

Am Abend finden wir ein einfaches Motel, das billigste unserer ganzen Reise. Hinter dem Tresen an der Rezeption, die eigentlich keine Rezeption, sondern eher ein winziges Häuschen mit einem Regal, einem Drucker, einer Kasse und einem Tischchen mit Kaffeemaschine ist, steht Norma und nimmt sich Zeit für jeden Gast. Dass sie Norma heißt, entnehme ich dem Schild auf ihrer Bluse. Norma sieht aus wie ungefähr siebzig, man merkt: Sie hat alles im Griff, und sie trägt augenscheinlich eine etwas zu große Perücke. Aber die braunen kurzen Ringellocken passen perfekt zu ihrer Augenfarbe und zu ihrem kleinen Trollgesicht.
Den Mann in abgetragener Arbeitskleidung vor uns fragt sie gerade nach seinem Auto-Kennzeichen. Er sagt „Moment“, geht zur Tür hinaus, liest die Nummer ab und kehrt zurück – hat aber die Hälfte vergessen. Nochmal 'raus, wieder nachgucken, wieder zurück. Doch die letzte Ziffer fehlt, sie hat sich offenbar auf dem Weg – drei Schritte'raus, drei wieder 'rein – aus seinem Kurzzeitgedächtnis verflüchtigt. Also nochmal das Ganze. Dann sagt er „3“ und entschuldigt sich. Darauf sie: „Das macht gar nichts, mein Lieber, Sie hatten bestimmt einen langen Arbeitstag“. Das erleben wir immer wieder – diese freundliche Art, harmlos im besten Sinn, freundlich und nie überheblich, ungehobelt oder gelangweilt.

Als wir dran sind, kommen wir über dies und das ins Gespräch. Nebenbei erledigt sie die Eincheck-Formalitäten. Es ist üblich, eine Kreditkarte vorzulegen, außerdem muss man einen Identitätsnachweis mit Foto zeigen sowie Automarke, Farbe und Kennzeichen angeben.
Norma wirft einen Blick auf Werners Geburtsdatum auf seinem Führerschein und verrät uns, dass sie 1930 geboren, also 85 Jahre alt ist – echt nicht zu glauben! Dann fragt sie, ob wir Haustiere dabei haben. Ich verneine. Sie scherzt mit Blick auf Werner: „Er vielleicht?“ Als ich auf ihre Frage, ob wir einen oder zwei Zimmerschlüssel brauchen, „Einen“ antworte, lacht sie: „Also kurze Leine – ein Schlüssel kurze Leine, zwei Schlüssel lange Leine.“ Sie erzählt, dass sie seit 33 Jahren verheiratet ist. „Manchmal kommt es mir vor wie ein Tag, manchmal unendlich lang.“ Sie schafft es, dabei zu strahlen und gleichzeitig die Augen zu rollen.
Das Motel-Zimmer ist ganz anders eingerichtet als sonst üblich: Anstatt dunkler, schwerer Möbel und Teppichen finden wir eine Art einfachen Ikea-Stil und pflegeleichten Fußboden vor. Für uns ist es ok, es ist insgesamt sauber und geräumig. Die meisten Amis mögen es vermutlich überhaupt nicht leiden.

Wir haben gerade unsere Siebensachen sortiert, da klingelt das Telefon. Es ist Norma. Sie möchte wissen, ob alles zu unserer Zufriedenheit ist. Ja, antworten wir, bis auf das Bettlaken, da ist ein Fleck drauf. „Oh, das tut mir leid, Liebes – aber kein Problem“, entgegnet sie und bietet uns einen Zimmerwechsel oder ein frisches Laken an, das wir aber abholen müssten, weil die Hauswirtschaft leider schon Feierabend hat.
Ich lasse Werner von der Leine, und er apportiert ein frühlingsfrisches Laken ; )

Hinter dem Haus verfärbt sich der Himmel in zarten Pastellfarben.

Morgen geht es weiter, auf zu neuen Erlebnissen!

 P. S. Die Nachrichtensender im amerikanischen Fernsehen berichten seit den Anschlägen in Paris und den damit verbundenen Ereignissen in Europa und anderswo rund um die Uhr von nichts anderem. Arne, mit dem wir heute per Skype Kontakt hatten, sagt, dass es in Neuseeland nicht anders ist. Unfassbar, das alles.

Mir fällt dazu viel ein, aber das alles gehört nicht hierher. Nur eins: Ich möchte Joann Sfar, einen Karikaturisten des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo, zitieren:
“Freunde weltweit”, schrieb er in einem Cartoon und dankte den Menschen auf der ganzen Welt für die Unterstützung. „Es braucht keine Gebete oder Religionen, aber es braucht den Glauben an Musik! Küsse! Leben! Champagner und Freude!“


In diesem Sinne:
Feiern wir die Musik, Küsse, das Leben, die Freude! Den Begriff „Champagner“ möchte ich durch „Freunde und Familie“ ersetzen.

Es grüßen herzlich

Eure
Werner und Helga