Seligman

Dienstag, 27.10.2015

Am Morgen vor unserer Abreise aus Flagstaff beobachte ich von unserem Zimmer im ersten Stock, wie ein Mann eine Flasche Wein aus einer Kiste von der Ladefläche seines Pickups nimmt. Er wirft sie mit gezieltem Schwung auf das Wellblechdach des Containers gegenüber, wo sie mit einem lauten Rumms landet. Dann steigt er in den Pickup, fährt fort und kommt nicht wieder. 

Kurios. Ich liebe solche Geschehnisse, die die Fantasie anregen. Die Miss Marple in mir vermutet sofort getarnten Sprengstoff oder eine heimliche Übergabe von Rauschmitteln. Oder so. Doch die Buddel liegt noch da oben, als wir abfahren. Ich entscheide mich für die Happy End-Variante: Ein trockener Alkoholiker hat die Flasche als Dank für seine Hilfe bei irgendeiner Arbeit bekommen und wirft sie weg, ehe sie ihm zum Verhängnis werden kann. Nicht irgendwohin, sondern dahin, wo sie unerreichbar ist. Oder so. :)

Einigermaßen genesen verlassen wir Flagstaff. Heute liegt eines der besterhaltenen und besonders malerischen Teilstücke der alten Straße vor uns. Wir erreichen schon bald das erste Städtchen, Williams, das das Auge mit gut erhaltenen Bauten, liebevoll gestalteten Läden, Lokalen und Häusern erfreut. Ein lebendiger Ort.

Auf der weiteren Strecke grüßt die Eisenbahn mit Maersk-Container, und Amandas Beauty Box bietet „Full Service“. Na sowas!

Bei der Weiterfahrt entdecken wir auch hier wieder, wie schon vorher auf der Route, in gleichmäßigen Abständen vier Tafeln mit Aufschriften am Straßenrand. Unsere Route 66-Lektüre informiert uns, dass es sich um Werbung der Firma „Burma-Shave“ handelt, einen Vorläufer der großen Reklametafeln späterer Zeiten.

Auf jeder Tafel steht ein kurzer Satz. Zusammen ergeben sie einen Reim, der auf humorvolle Art Werbung für die Rasiercreme macht. Fährt man zu langsam, verpasst man den Reim, fährt man zu schnell, kann man die Schrift nicht lesen. Beim Blogger Marcel Huijser habe ich diese Fotos von den Old School-Tafeln gefunden, die ich besonders amüsant fand.

Vor uns liegt ein weiterer Höhepunkt der Reise, der Ort Seligman, und mit ihm ein Mann namens Angel Delgadillo, auch „Vater der Mother Road“ genannt. Seine Lebensgeschichte ist gleichzeitig auch ein Stück Geschichte der Route 66, und als wir nach Seligman hineinfahren, rätseln wir, ob der Mann wohl noch lebt, denn alle Berichte, die wir gesehen, und die Informationen, die wir gelesen haben, sind schon mehrere Jahre alt:


...„Angel Delgadillo wurde am 19. April 1927 in Seligman, Arizona geboren, einem kleinen Ort an der Route 66. In seiner Kindheit erlebte er noch die Durchreise hunderttausender Farmer aus Oklahoma und Arkansas, die aufgrund der Großen Depression/Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren sowie der Dürrejahre hoch verschuldet waren und über die Route 66 nach Kalifornien zogen.

Im Roman "Früchte des Zorns“ von John Steinbeck (der übrigens den Begriff „Mother Road“ erfand) wurde diese Geschichte 1939 thematisiert und später mit Henry Fonda verfilmt.
Als im September 1978 ein wichtiges Teilstück des Interstate Highway 40 eröffnet wurde, führte dies schlagartig dazu, dass die Touristen den kleinen Ort Seligman weiträumig umfuhren. Seligman war wie viele andere Orte an der Route 66 über Nacht vom Durchgangsverkehr dieser wichtigen Ost-West-Verbindung abgeschnitten. Die Motels, Restaurants und Tankstellen hatten buchstäblich über Nacht ihr Gewicht als Hauptwirtschaftsfaktor verloren. Viele Orte verfielen zusehends (das sieht man heute an allen Ecken und Enden, wenn man die ganze Route 66 fährt)
Delgadillo und einige Gleichgesinnte wollten sich nicht damit abfinden, dass auch ihr Ort zur Geisterstadt werden sollte. Sie gründeten die „Route 66 Association“ und kämpften jahrelang dafür, dass die Route 66 als "State Historic Route" vom Bundesstaat Arizona anerkannt und geschützt wird, bis sie 1987 tatsächlich Erfolg hatten.
Zeitgleich wurde die Nostalgiewelle um die alte Route 66 als Amerikas „Mother Road“ ausgelöst, und der kleine Ort Seligman rückte in den Blickpunkt weltweiten Interesses.
In Seligman befand sich auch das originelle Schnellrestaurant Delgadillo's Snow Cap Drive-In, das von Angel Delgadillos Bruder Juan 1953 eröffnet wurde und Kultstatus erreichte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2004 unterhielt Juan seine Gäste mit originellen Sprüchen und lustigen Späßen.
Der wortkargere Angel Delgadillo betrieb nebenan jahrzehntelang den örtlichen Friseursalon, der zu einem Treffpunkt von Route-66-Enthusiasten aus der ganzen Welt wurde und heute vor allem als Andenkenladen und Anlaufpunkt für Touristen dient, die den kleinen Fiseurladen mit tausenden kleiner Andenken, wie Visitenkarten, Geldscheinen, Postkarten und Nummernschildern aus aller Welt dekoriert haben.
Über Angel Delgadillo, der mittlerweile als "Schutzengel der Route 66" oder als "Vater der Mother Road" verehrt wird, wurde in zahlreichen Artikeln, Büchern und Dokumentarfilmen zum Thema Route 66 berichtet.
In Interviews verriet Filmemacher John Lasseter, dass der fiktive Ort Radiator Springs in seinem Oskar-nominierten Animationsfilm „Cars“ hauptsächlich auf Seligman basiert. Bei der Recherche über die Route 66 habe er sich mit dem alten Friseur Angel beraten, der ihm davon erzählte, wie es war, als Seligman über Nacht vom Verkehr abgeschnitten wurde und die Einnahmen des Ortes wegblieben.“
(Aus Wikipedia)

Wir treffen an diesem verschlafenen, sonnigen Sonntagvormittag in Seligman ein. Die Hauptstraße, die durch Seligman führt und an der fast alle Häuser und Geschäfte angesiedelt sind, liegt bis auf einen parkenden Reisebus verlassen da. Vor einem Laden hängen ein paar Leute herum und fotografieren.

Im ersten Moment denke ich: „Bitte nicht noch mehr alte Holzhütten, verrostete Tanksäulen und Souvenir-Kram.“ Wir parken vor der „Grocery“, dem Lebensmittelladen des Ortes. Die Asiatin an der Kasse grüßt freundlich, wir ziehen ein paar Scheine aus dem Geldautomaten (Geldautomaten findet man hier eigentlich immer in Tankstellen und Supermärkten) und kaufen ein Eis. Ich kämpfe immer noch mit den verschiedenen amerikanischen Münzen und reiche daher meistens Dollarscheine (der kleinste ist der 1-Dollar-Schein) über die Theke. Aber diesmal habe ich Zeit, denn der Laden ist leer, und die Kassiererin freut sich über das passend abgezählte Kleingeld.

Wir gehen die paar Meter hinüber zu den Häuschen und Läden und tauchen ein in die Welt der Oldtimer.

Im hinteren Teil eines Souvenir-Ladens sind Motorräder ausgestellt. Schmuckstücke.

Und dann packt einen doch wieder der spezielle Charme, das besondere Etwas der Autos, Bikes, Heckflügel, des vielen Chroms, und der Zuckerbäckerfarben Himmelblau, Himbeerrosa und Pastellgelb, die an Petticoats, Eiscreme und Zitronenlimonade erinnern.
Lebensgroße Aufsteller sind allgegenwärtig, selbst auf dem Örtchen: Elvis Presley bei den Ladies, Marilyn Monroe bei den Jungs. Ich hatte den Herrn beim Eintreten gar nicht gesehen und war einigermaßen erschrocken, als ich aus der Kabine trat.

Die Häuser von früher waren ganz niedrig und hatten deutsche Nummernschilder an der Garage ;-)             

 

Humor hat man in Seligman auch 

"Wenn das Pferd stirbt - steig ab"

"Here lies Billy Pretzel / Last Guy who touched my Edsel"

(Hier liegt Billy Pretzel, der letzte Kerl, der mein Edsel berührt hat)

Das Wort "Edsel" ist charmant hinter Grünzeug versteckt. Was ein "Edsel" ursprünglich war und welche, sagen wir mal, vielfältig interpretierbaren Wortspiele damit verknüpft wurden, ist HIER nachzulesen :D)

Zurück ins Hier und Jetzt: Vor diesem Haus, dem berühmten Laden und Barber-Shop von Angel und Vilma Delgadillo, posiert und fotografiert inzwischen fleißig die (dänische) Gruppe aus dem Reisebus. Auch James Dean hat sich unter das Volk geschmuggelt.

Und noch jemand taucht plötzlich auf. Werner sagt: „Das ist er“, und ich drücke spontan auf den Auslöser: Angel Delgadillo kommt, zufrieden lächelnd, auf seinem Fahrrad vorbei, direkt vor unserer Nase. Ein ganz besonderer Moment, ein echter Kick auf der Route 66.

Der Bus fährt schließlich fort, Angel D. dreht weiter die Runde durch „seinen“ Ort, und wir nehmen noch kurz für ein Foto auf der Bank vor seinem Barber-Shop Platz, bevor wir wieder ins Auto steigen. Zum Schluss machen wir noch ein Foto von Lilo's Café. Lilo, eine Deutsche, führt ihr Restaurant am Ortsausgang seit einigen Jahrzehnten mit großem Erfolg. Es soll Schnitzel, Bratwurst und Torte geben. Nicht für uns, denn wir haben noch keinen großen Appetit.

             

Die Landschaft hinter Seligman wird wieder karger. Seltsame Pflanzen, die an Hirsekolben erinnern, wachsen am Wegesrand. Wir steigen kurz aus, genießen die Stille und sehen uns um. Hopi-Land, sagt das Schild vor uns.

Es folgt Hackberry, ebenfalls ein Ort mit wechselvoller Geschichte. Einst Silbermine, später Geisterstadt, wurde es in den frühen 1990er Jahren durch den Kartografen und Künstler Bob Waldmire wiederbelebt, indem er den einstigen General Store als Tourismus-Center und – na was wohl – Souvenir-Shop einrichtete. 1998 kam ein Pärchen, John and Kerry Pritchard , in ihrem Oldtimer auf ihrer Route-66-Tour vorbei, blieb hängen und kaufte spontan das „Anwesen“. Vermutlich war es Kerry, die mir den kleinen Schlüsselanhänger verkaufte. Bob Waldmires Asche wurde auf seinen Wunsch hin übrigens an mehreren Orten entlang der Route verstreut. Tja, so kann es gehen...

In Kingman verlassen wir die Route 66 für einen Abstecher zum Hoover-Staudamm und nach Las Vegas. Davon in Kürze mehr.


Erstmal grüßen wir ganz „Rout“iniert nach N S W E


Eure Route-66ler