Stille, Serpentinen, Stadt der Esel und Bagdad Café

Samstag, 31.10.2015

Guten Morgen, Guten Abend, Guten Tag!

Vorab noch ein Nachtrag zu Las Vegas - mit nostalgischen Grüßen nach Neuseeland: Im Fahrstuhl des Hotels lief tatsächlich „MMMBop“ von Hanson. Remember? :D

Nach unserem Abstecher nach Las Vegas geht es wieder zurück Richtung Route 66. Als wir von Ferne den Lake Mead sehen, fahren wir spontan in den Canyon hinab und machen an diesem idyllischen Fleckchen Erde eine Frühstückspause. Wie gut die Stille tut!

Man sieht, wie niedrig der Wasserstand ist 

Zurück auf der Route 66, fahren wir zunächst irrtümlich in die falsche Richtung – nach Osten. Wir bemerken den Fehler zum Glück schnell und kehren um.
Mehrere sogenannte Washs, das sind trockene Flusstäler in der Straße, kreuzen ab hier für die nächsten zig Kilometer die Straße. Bei heftigen Regenfällen irgendwo weit weg im Gebirge können sie die Straße überfluten und dürfen dann nicht durchfahren werden. Bei besonders tiefen Tälern warnt ein Schild vor DIP – dort sollte man ganz langsam fahren. Wir jedoch haben mal wieder Sonne satt.
Die Gegend ist einsam, wirkt verlassen.

Wir haben den Eindruck: Wer hier in diesen Tälern wohnt, will mit der Welt nichts zu tun haben. Es gibt weit und breit nichts außer der Natur. Offenbar waren hier früher Goldminen in Betrieb, jetzt ist nichts mehr davon übrig. Selbst die Berge in der Ferne sehen eigenwillig aus ;-)  

Wir machen Fahrerwechsel, und ich fahre eine der schönsten Strecken unserer Reise. Es geht durch die schwarzen Berge eine enge und kurvenreiche Passstraße hinauf. Mittelstreifen und Leitplanken gibt es nicht. Rings um uns eine wunderschöne Landschaft, die die Fahrt zu einem unvergesslichen Erlebnis macht. Haarnadelkurven, nach denen sich immer wieder neue Ausblicke bieten. Es wird noch steiler und kurviger, einfach atemberaubend.

An einer Stelle sehe ich über uns im Hang die orangeroten rostigen Wrackteile eines Oldtimers liegen. Spontan fällt mir die denkwürdige Schluss-Szene des Films „Thelma und Louise“ ein. Dieses große, weite Land beflügelt immer wieder die Fantasie. Und der Tag ist noch nicht zu Ende.

What goes up, must come down – Nachdem wir am Sitgreaves Pass den höchsten Punkt mit 1.082 m erreicht haben, geht es wieder bergab. Den Tri-State-Lookout, von dem aus Arizona, Kalifornien und Nevada zu sehen sind, verpassen wir. Hier gibt es auch eine Goldmine, die noch bis 1998 in Betrieb war und jährlich mehr als 1.100 kg Gold förderte. Dann verfiel der Goldpreis, die Mine wurde geschlossen. Sollte er wieder steigen, wird die Mine bestimmt wieder in Betrieb genommen.

Die Minen und der wachsende Verkehr auf der Strecke machten den Ort Oatman, auf den wir am Ende der Passstraße treffen, zu einem blühenden Verwaltungs- und Handelszentrum.

Davon ist nichts mehr übrig. Heute gibt es hier vor allem - Esel!
Sie laufen quer über die Straße, bleiben stehen, wo es ihnen beliebt, sie stinken und haben Flöhe, und sie sind offenbar die Hauptattraktion hier, zusammen mit dem historischen Oatman Hotel, in dem man das Zimmer begucken kann, in dem Clark Gable und Carol Lombard ihre Hochzeitsnacht verbracht haben. Wollen wir das sehen? Nö.

Die Geschichte weiß darüber hinaus zu berichten, dass Clark Gable diesen Ort liebte und später immer mal wieder vorbei kam. Dann spielte er abends mit den Einheimischen Poker. Wir bummeln einmal durch "die Geisterstadt, die sich weigert, zu sterben", und in der man aus dem Stand heraus sofort einen Western vom Anno Schießmichtot drehen könnte, ohne auch nur eine Requisite herbeischaffen zu müssen. Alles da! Wir fotografieren, und das war es dann. 

Nett, die Bekanntschaft gemacht zu haben, bye-bye!

 

Weiter geht es nach Topock, wo wir den Colorado River überqueren. Am anderen Flussufer verläuft die Grenze zu Kalifornien.
Parallel zur Brücke sieht man die alte Route 66 Colorado Bridge, die seit 1947 für den Verkehr gesperrt ist und heute mit einer Gaspipeline versehen ist. Im Film „Früchte des Zorns“, so belehrt uns unser Route 66-Reiseführer, „fährt Familie Joad über diese Brücke. Wer seinen Steinbeck gelesen hat, kann vielleicht nachempfinden, mit welchen Gefühlen die Familie Joad beim Anblick des grünen Tals spontan im Colorado gebadet hat und warum Noah nicht mehr weiterfahren wollte.“

Hm, ich habe Früchte des Zorns nie gelesen, aber Werner kennt die Story und erinnert sich an die Szene. Aber ich entdecke auch etwas, das mich an die Heimat erinnert :D

Als wir die Reise vorbereitet haben, bin ich durch Zufall auf die Tatsache gestoßen, dass der Drehort eines meiner Lieblingsfilme „Out of Rosenheim“ mit Marianne Sägebrecht an der Route 66 liegt. Der Film lief auch in den USA, aber als Serie unter dem Titel „Bagdad Café“ mit Whoopi Goldberg in der Hauptrolle. Die Umgebung im Film gibt der Handlung einen stimmungsvollen, passenden Rahmen. Ich wollte unbedingt hin.

Nun sind wir da.


Wir kommen nachmittags an, parken den Wagen, steigen aus.

Es ist heiß, es ist still.

Eine Frau in meinem Alter und ein etwa sechsjähriges Mädchen kommen vom Hof herüber auf uns zu.
Wir: „Hallo“
Die Großmutter: „Hallo. Woher kommt ihr?“
Wir: „Aus Germany.“
Die Frau schüttelt uns die Hand (was die Amis eigentlich nie machen). Sie zuppelt an meinem T-Shirt (sehr ungewöhnlich, das muss man sich bei jemand Fremdem erst mal trauen) und sagt: „Hamburg.“
Ich bin verdutzt. Doch tatsächlich, ich habe heute mein T-Shirt mit „Hamburg“-Aufschrift an.
Sie öffnet uns die Tür, und beim Hineingehen frage ich, ob wir etwas zu Essen bekommen können. Sie bejaht und verschwindet.


Das Café ist leer, jedenfalls ist kein Mensch da. Ansonsten ist es voll. Alles vollgestopft mit Zeugs, Kram, Andenken.
Wir nehmen gegenüber der Theke Platz und lassen die Kulisse auf uns wirken.
Auftritt Urgroßmutter, die nicht nach Urgroßmutter aussieht: Eine spindeldürre, langhaarige Blodine in rockigen schwarzen Klamotten (Shirt, enge Hosen und Boots), die kaum zwischen all dem Gedönse auffällt, läuft geschäftig hin und her. Nur aus der Nähe sieht man, wie alt sie schon ist. Sie fragt unruhig, fahrig, ob wir etwas trinken wollen. Wir bestellen Cola und Brause, die sie schnell bringt.
Normalerweise kommt jetzt die Speisekarte. Oder man bekommt aufgezählt, was die Küche zu bieten hat und wird dann gefragt, was man essen möchte.
Auf der Tafel von Anno Siebzehnhundertundkrug über dem Tresen sind mehere Gerichte aufgelistet, doch nur hinter zweien stehen Preise: Burger oder „Philly-Steak“.


Wir überlegen, ob die resolute Frau Nummer Eins vielleicht schon eigenmächtig eine Bestellung aufgegeben hat. Nach dem Motto: „Essen bei Freunden – es gibt sowieso nur ein Gericht, also wird es aufgetischt.“
Jedenfalls herrscht in der Küche Betrieb, obwohl außer uns keine Gäste da sind.

Die Mutter des Mädchens:
Hinter dem Tresen sieht man in einer Lücke zwischen allerlei aufgetürmtem Porzellan in einer Art Durchreiche eine Frau mittleren Alters geschäftig agieren. Das heißt, eigentlich sieht man nur ihren gesenkten Kopf. Sie bewegt sich in hin und her, ist offenbar sehr beschäftigt. Es sieht aus, als ob sie eine Mahlzeit zubereitet. Oder zwei. Vielleicht für uns? Man hört Geschirrklappern.

Wir haben Zeit und nuckeln an den Strohhalmen. Die Urgroßmutter sortiert irgendwelche Sachen im Hintergrund.

Das Kind taucht wieder auf, es wirkt irgendwie verstört, turnt auf den Barhockern herum, mault wegen irgendetwas. Die Mutter ruft aus der Küche und weist das Kind zurecht.

Ich wandere in den Nebenraum und kippe fast aus den Pantinen vor all dem Plüsch und Tand und Trödel. Eigentlich wunderschöne Stücke, aber leider ist das meiste kaputt, verlottert, in Auflösung begriffen. Und doch wirkt es gleichzeitig, als bräuchte es nur ein paar Leute, die das Ganze mit Leben füllen, die sich in die Sitze fläzen, lachen und palavern. Man kann sich vorstellen, dass hier abends Karten gekloppt und Bier getrunken wird, dass man gemeinsam Sport im TV schaut und dass einer, der mal Musiklehrer war oder so, zu später Stunde keck den Klavierdeckel öffnet, flüchtig über die eingestaubten Klaviertasten pustet und dem alten Instrument ein paar lustige Töne entlockt. 

  Fans aus aller Welt haben hier T-Shirts hinterlassen, die an die Decke gepinnt wurden. Vielleicht deshalb das Gezuppel? 

Wir sitzen gegenüber der Theke, sinnieren und analysieren die Küchengeräusche. Wird da etwas für uns gebrutzelt? Aber wir haben noch gar nicht bestellt. Doch die Atmosphäre ist hier so wenig professionell, dass man durchaus meinen kann, dass das, was da augenscheinlich in der Küche zubereitet wird, für uns gekocht würde. Sind ja eh nur zwei Gerichte auf der Tafel.

Urgroßmutter segelt vorbei - durch ihre eigene Welt, als seien wir nicht da.

Das Kind turnt vorbei und meidet unseren Blick.

In der Küche wird gewerkelt.

Und dann wird es wirklich surrealistisch. Und ganz egal, ob wir etwas zu Essen bekommen oder nicht. Werner sagt noch: „Hier kann man sich nur noch zurücklehnen und zugucken, was passiert.“
Die Tür öffnet sich und ein Paar, das aussieht wie geradewegs einem französischen Film der neunzehnhundertsechziger Jahre entstiegen, tritt ein.
Sie setzen sich einander zugewandt auf die Barhocker an der Theke, ohne groß von ihrer Umwelt Notiz zu nehmen. Sich selbst genug. Urgroßmutter segelt vorbei, wird für ein kurzes abgehaktes Wortgeplänkel in ihrer Rastlosigkeit unterbrochen, dann haben beide eine Flasche mit Irgendwas in der Hand. Franzosen, ganz sicher.
Die Zeit steht still. Wir nuckeln an der Brause, alle sitzen in der französischen Filmkulisse, die beiden werfen sich leise wenige Stichworte zu. Wir sind die Statisten, gefangen in einer Filmszene, die nicht mehr aufhört. Die Franzosen sind ganz entspannt im Hier und Jetzt, Urgroßmutter wuselt umher, die Mama werkelt weiter emsig in der Küche, das Kind ist verschwunden, die Frau vom Anfang der Geschichte sowieso.
Sofern nicht gleich Marianne Sägebrecht zur Tür hereinkommt und den Knoten auflöst, werden wir hier noch in drei Jahren sitzen.
Irgendwann gleiten die Franzosen elegant vom Barhocker und gehen. Wir stehen auch auf und bezahlen bei Urgroßmutter, die sich nach kurzem Blick gen T-Shirt-Decke dunkel daran erinnert, was wir getrunken haben. Wenigstens kostet es ordentlich was! Man muss sich sonst ja Sorgen machen, wie das Vier-Frauen-Haus hier wohl zurechtkommen mag. Zumal, wenn sie ihre Gäste nicht zum Essen animieren...

Am Abend im Hotel vermisst Werner seine EC-Karte. Sie ist ihm vermutlich aus der Hosentasche gefallen.

Wir haben zwar im Bagdad Café bar bezahlt, aber ich rufe trotzdem dort an. Ich bin so neugierig auf dieses kaputte, beknackte, verrückte Café. Irgendwie erwarte ich, dass das Klingeln des Telefons ins Leere geht, dass das Café tatsächlich nur Filmkulisse ist, die abends abgebaut wird, ein Film, in der Gäste und Personal die Hauptdarsteller sind und jeden Tag ein anderer Film gedreht wird.

Doch obwohl es schon halb neun Uhr abends ist und das Lokal seit eineinhalb Stunden geschlossen hat, meldet sich nach kurzem Klingeln eine Männerstimme. Im Hintergrund höre ich ganz reale, laute Kneipengeräusche. Menschen reden durcheinander, lautes Stimmgewirr. Scheinbar erwacht das Café erst nach Geschäftsschluss zum Leben. Jetzt sind bestimmt die Plätze besetzt, und gleich beginnt der Ex-Musiklehrer auf dem Klavier zu spielen!

Der Mann an der Strippe ist sehr hilfsbereit und fragt: Wo wir saßen, wann wir da waren, welche Farbe die EC-Karte hat. Nach jeder meiner Antworten sagt er höflich: „Moment, bitte“, um dann die jeweilige Antwort in den Raum zu rufen: „Gegenüber der Theke“, „Am Nachmittag“, „Rot und weiß“. Nein, bedauert er dann, nichts gefunden.

Der Besuch im Bagdad-Café wirkt noch lange noch. Wieder so ein aus der Zeit gefallenes Erlebnis, wie so viele auf der Route 66.

Apropos: Unsere Reise auf der Route 66 nähert sich langsam dem Ende. Kein Grund, melancholisch zu werden. Eher ein Grund dafür, dankbar zu sein, so viel erlebt und gesehen zu haben. Aber es geht ja noch weiter. Wir werden berichten

In diesem Sinne

grüßen Euch

die ROUTiniers

Werner und Helga